Der Thronfolger

 

Geduckt schlich eine kleine, dunkel gewandete Gestalt durch die Gänge des Kristallpalastes. Sie hielt ein Bündel im Arm, das in dem schwarzen Umhang vor Blicken geschützt war. Hin und wieder verharrte sie lauschend, schaute auf das Bündel und sah sich anschließend um, bevor sie weiter schlich.
Irgendwann blieb sie wieder stehen und drückte mit einer Hand gegen die Wand. Beinahe lautlos öffnete sich diese und gab einen weiteren, kleineren Gang frei. Die Gestalt huschte hinein, und die Wand schloß sich hinter ihr.

Ist ja schon irgendwie peinlich, dachte Arkan e'dhelcú, als er durch den Geheimgang Richtung Thronsaal schlich. Da stehle ich meinen eigenen Sohn!
Im Geiste hörte er seinen Halbbruder Jethro Cunack höhnisch rufen: "Arkan! Arkan, bist du zu alt, um Kinder zu stehlen?Bist du eingerostet oder zu feige geworden, um estron-Kinder ins Hügelreich zu holen?" Der Hügelprinz verzog ärgerlich das Gesicht.
Das Kind in seinem Arm schlief zum Glück seelenruhig, aber es wurde mittlerweile schwer. Æolas war kein kleiner Säugling, er war groß, und Arkan wunderte sich immer noch darüber, wie seine kleine Frau Fiacha die Geburt schadlos überstanden hatte.
Aber dies war auch der Grund, warum der Hügelprinz seinen neugeborenen Sohn heimlich aus dem Kinderzimmer mitgenommen hatte. Æolas war ungewöhnlich groß für einen Tuach na Moch, und dies konnte seiner Meinung nach weder seine noch Fiachas Veranlagung sein.
Wieder stand Arkan vor einer Wand, die er aufdrückte, und er betrat den Thronsaal. Der Geheimgang befand sich direkt hinter dem Kristallthron, und der Hügelprinz schritt um ihn herum zur Vorderseite.
Gedankenverloren betrachtete er den Thron eine Weile. Das aquamarine Pulsieren des Thrones, dessen Rückenlehne die Form einer Sanduhr hatte, nahm den Hügelprinzen immer wieder gefangen. Jedes Mal, wenn er davor stand, hatte er den Eindruck, diese wunderbar gearbeitete Sitzgelegenheit wollte ihm etwas mitteilen, und es war ein ähnliches Gefühl, wie er es in den Cystírräumen oft empfand. Arkan war davon überzeugt, daß sowohl die Cystíre, welche um die Hügelstädte in ganz speziellen Räumen bewacht wurden, da sie die Existenz der Städte sicherten, als auch dieser Thron in irgendeiner Art lebendig waren. Niemand wußte mehr, wann dieser Thron entstanden war oder welcher Künstler ihn erschaffen hatte, aber Arkan war inzwischen davon überzeugt, daß er aus dem gleichen kristallinen Material wie die Cystíre bestand, - und daß vielleicht Moch selbst ihn für die Sippe erschaffen hatte. Nur Nachkommen aus der Linie Arpad e'dhelcús konnten diesen Thron besteigen. Jeder andere würde sofort sterben, wenn er sich darauf setzte. Es gab derzeit nur drei Personen, die auf diesem Thron gesessen und überlebt hatten: er, Arkan, selbst, sein Sohn Feach McLlyr e'dhelcú und sein Halbbruder Jethro Cunack.
Der Säugling in seinem Arm öffnete verschlafen die Augen und gähnte herzhaft. Liebevoll schaute Arkan ihn an und streichelte sanft seine Wangen. Dann hob er den Kopf und blickte wieder den Thron an. Sein Blick wanderte vom Thron wieder zum Säugling, und der Prinz seufzte.
Ich muß es tun! dachte er verzweifelt. Ich muß Gewißheit haben!
Arkan hatte ein schlechtes Gewissen bei seinem Vorhaben. Wie klein war doch sein Vertrauen zu seiner Frau, daß er solch krasse Maßnahmen ergreifen mußte. Aber als Prinz der Tuach na Moch mußte er Gewißheit haben, daß Æolas auch wirklich sein Sohn war. Und die einzige Art dies unwiderruflich festzustellen war, den Kleinen jetzt auf den Thron zu setzen. Dies widerstrebte Arkan jedoch zutiefst. Er liebte Kinder. Und wenn Æolas nicht sein Sohn sein sollte, so würde er ihn dadurch, daß er ihn auf den Thron setzte, töten. Betrübt schaute er den Säugling wieder an. Dieser hatte die blauen Augen nun weit geöffnet und sah Arkan unverwandt an. Der Kleine hatte die Augen seiner Mutter, - das konnte Arkan mit Gewißheit sagen. Doch war Æolas auch sein Sohn?
Fiacha war hübsch und klug, und Arkan liebte sie wirklich, auch wenn er (in Gedanken) nicht immer treu war. Seine Gemahlin schien es zu wissen, und es machte ihr scheinbar nichts aus. Seine Annäherungsversuche in Richtung der schönen Druidin Chat Bidu nahm sie meist lächelnd zur Kenntnis. Und das verwunderte den Prinzen. Frauen, so dachte er immer, sind recht eifersüchtige Wesen, insbesondere wenn sie noch so jung wie Fiacha sind. Ihr jedoch schien das egal zu sein, was ihr Gatte tat, und dafür konnte Arkan keine Erklärung finden, - außer....
Außer sie liebte ihn nicht und hatte einen Liebhaber, was er ihr seinerseits nicht einmal übel nehmen würde. Seine Frau war jung, jünger noch als seine anderen drei Kinder, und sie hatte ihn geheiratet, noch bevor sie Erfahrungen mit Männern sammeln konnte.
Könnte es nicht sein, daß der Mangel an Erfahrung dieses Kind zur Folge hatte, und Fiacha ihm, Arkan, dieses Kind - ob wissentlich oder unwissentlich war einmal dahin gestellt - unterschob?
Mit einem tiefen Seufzer hob Arkan den Kleinen hoch und trat auf den Thron zu.

"ARKAN!"
Erschrocken zuckte der Hügelprinz zusammen und sah sich um, als er ein lautes Rufen hinter sich vernahm. Er preßte Æolas an seine Brust.
Erleichtert erkannte er seinen alten Mentor und Ratgeber Lorendas. Ein gezwungenes Lächeln erschien auf seinem Gesicht.
"Ach, Lorendas! Du hier?"
Der alte, aber noch rüstige Tuach na Moch legte den Kopf schief und sah den Hügelprinzen durchdringend an.
"Was, bei Moch, machst du da, Arkan?" fragte er streng, als sei der Prinz immer noch sein Schüler.
Arkan preßte Æolas noch fester an sich, ließ aber sofort wieder locker, als der Kleine zu quängeln began.
"Ähem, nichts! Nichts mache ich." Er sah kurz den Kristallthron an. "Ich wollte nur...."
"Du wolltest nur den Kleinen auf den Thron setzen," beendete Lorendas kopfschüttelnd und immer noch sehr streng den Satz.
"Ähem....," Arkan senkte den Kopf und sagte schließlich kleinlaut: "Ja!"
Lorendas trat näher an Arkan heran, und sein Gewand rauschte über den Boden des Thronsaales.
"Warum?" fragte er noch im Gehen. "Warum willst du Æolas auf den Thron setzen? Er ist doch noch ein bißchen jung, um ein Volk regieren zu können, findest du nicht?"
Arkan entging der Spott in Lorendas Stimme nicht.
"Ich denke, du weißt genau, warum!" entgegnete der Hügelprinz patzig. Bei Moch, warum fühlte er sich in Lorendas Anwesenheit immer noch so jung und dumm?
Inzwischen hatte auch der alte Mann den Thron erreicht, und er stellte sich mit verschränkten Armen vor Arkan.
"Du wolltest feststellen, ob er wahrhaftig dein Sohn ist!"
"Ja!"
"Bei Moch, warum, Arkan? Hast du so wenig Vertrauen zu deiner Frau, daß du dies tun mußt? Gibt es irgendeinen Grund, Fiacha zu unterstellen, dir dieses Kind unterzuschieben?" Lorendas Worte waren hart und emotionslos gesprochen, um den Prinzen zu treffen. Und das war ihm gelungen.
Mit gesenktem Kopf und zusammengesunkenen Schultern stand Arkan vor seinem alten Mentor. Leise sagte er: "Es tut mir leid, Lorendas!"
Der Prinz erwartete nun ein Standpauke, wie er sie früher von Lorendas öfter zu hören bekommen hatte, wenn er den Hügelprinzen auf Fehler und Mißstände aufmerksam machen wollte.
Zu seiner Überraschung jedoch spürte er eine Hand auf seiner Schulter, und Lorendas sagte nur: "Recht so, Arkan!"
Verdutzt hob Arkan den Kopf, und sah in Lorendas grinsendes Gesicht.
"Bitte? Was sagst du da? Recht so?"
Lorendas beugte sich über den Säugling und machte eigenartige Geräusche, - Geräusche, wie viele Erwachsene sie machen, wenn sie einen Säugling betrachten. Es klang wie "Kutschikutschikutschi!"
Verwirrt schüttelte Arkan den Kopf.
"Ähem, Lorendas, ich hatte soeben den Eindruck, als würdest du meinen Plan nicht gutheißen. Deinen Worten jedoch entnehme ich jetzt, daß du ihm aber zustimmst."
Der alte Mann blickte den Hügelprinzen an.
"Aber sicher stimme ich deinem Plan zu," versicherte er. "Du bist der Hügelprinz! Du bist der Herrscher der Tuach na Moch! Du hast nicht nur Freunde, Arkan, sondern auch Feinde. Vertraue niemandem, Arkan! Hörst du? Niemandem! Warum sollte Fiacha nicht versuchen dir ein Kind unterzuschieben? Sieh dir Æolas doch mal an." Er zeigte mit dem Finger auf den Säugling. "Er ist ziemlich groß, nicht wahr? Ganz anders als du oder Fiacha." Lorendas legte den Kopf wieder schief, als überlege er. "Wahrscheinlich ist der Vater ein Oberweltler, ein estron. Bei dieser Größe sehr wahrscheinlich sogar."
"Meinst du?" fragte Arkan zaghaft. Dieser Gedanke war ihm schon viele Male selbst gekommen, aber es tat weh, diesen Verdacht aus Lorendas Munde zu hören.
"Nun," antwortete sein Ratgeber, "es sieht jedenfalls danach aus, nicht wahr?" Er wandte sich um und begann hin und her zu wandern. "Fiacha hat Kontakt zur Oberwelt, - ich erinnere nur an eure Hochzeitsreise."
Arkan verzog das Gesicht. Er wollte sich nicht wirklich daran erinnern. Die einzigen schönen Erinnerungen, die er an seine Hochzeitsreise hatte, waren die Nächte mit Fiacha. Die Tage jedoch hatte er meistens verflucht.
"Ja, aber da waren wir doch zusammen, Lorendas!" wandte Arkan ein.
"Immer?" hakte der alte Mann nach.
Arkan überlegte.
"Nein, natürlich nicht immer!"
Er hob Æolas kurz hoch, um das Gewicht auf den anderen Arm zu verlagern. Der Säugling nahm dies mit einem Schmatzen zur Kenntnis und schloß wieder die Augen.
"Na also!" Lorendas nickte.
"Also, was?" fragte Arkan vorsichtig.
"Ihr ward nicht immer zusammen," antwortete der alte Mann.
Arkan begann zu grübeln. Lorendas hatte Recht. Es hatte Tage während der Hochzeitsreise gegeben, da Fiacha früher als der Prinz aufgestanden und an Deck gegangen war. Und an manchen Abenden war er, Arkan, früher ins Bett gegangen als seine Gemahlin. Vielleicht....vielleicht....
"Ein Fryse?" piepste Arkan. "Meinst du, ein Fryse....und Fiacha....?"
Lorendas zuckte mit den Schultern.
"Wer weiß?"
Der Hügelprinz seufzte unglücklich. Der Säugling schien an Gewicht zuzunehmen, und genauso schwer wurde es dem Prinzen ums Herz. Sollte Fiacha ihn wirklich betrogen haben? Und dann auch noch mit einem Frysen? Vielleicht sogar mit diesem Kaptain? Wie hieß er doch noch? Ach ja, Schymann Harthward, oder so.... Sie hatten sich ziemlich gut verstanden die beiden, nicht wahr?
Gedankenverloren setzte Arkan das Kind auf dem Thron ab und wandte sich seinem Ratgeber zu.
Dieser begann plötzlich zu lachen.
"Arkan," prustete Lorendas und zeigte auf den Thron, "du bist und bleibst ein Dummkopf!" Er klopfte sich vor Vergnügen auf die Schenkel.
Erschrocken sah Arkan sich um und schrie auf.
"Æolas!"
Blitzschnell nahm er das Kind vom Thron und riß es an sich.
Der Säugling öffnete wieder die Augen und begann zu quängeln, denn er fühlte sich offensichtlich in seiner Ruhe gestört.
Arkan starrte den Kristallthron an.
Lorendas, der wieder zu Atem gekommen war, forderte ihn auf: "Nur zu,mein Prinz, es ist doch nichts passiert."
Zögerlich und ganz langsam legte Arkan das Kind auf den Thron, - und nichts passierte. Æolas quängelte immer noch, und es würde wohl nicht mehr lange dauern, bis er anfangen würde zu schreien, - aber er erfreute sich bester Gesundheit.
Erleichtert, ja beinahe glücklich, nahm Arkan den Kleinen wieder auf den Arm und ließ sich selbst auf dem Thron nieder. Er umarmte das Kind, schaukelte es ein wenig im Arm und sprach beruhigend auf ihn ein.
"Mein Sohn!" murmelte er immer wieder. "Du bist mein Sohn!" Er blickte Lorendas, welcher unter seinem Umhang die Hände hinter dem Rücken verschränkt hatte, stolz und strahlend an. "Lorendas, er ist mein Sohn! Jetzt weiß ich es genau!"
Der Ratgeber des Hügelprinzen stand noch eine Weile lächelnd vor dem Thron, bis er sich schließlich zum Gehen wandte, und den glücklichen Vater mit seinem Sohn allein ließ.
Lorendas hatte bereits den Türgriff in der Hand, als er sich noch einmal umwandte und dem Hügelprinzen zurief.
"Arkan, bedenke aber, daß es noch einen Oberweltler gibt, der auch Arpads Linie entstammt!" Und mit diesen Worten verschwand der alte Mann durch die Tür.

Arkan sah seinem Ratgeber verstört nach, - und wenn er diesen alten Mann nicht so geliebt hätte, hätte er ihn für diesen Satz jetzt gehaßt.

 

Der Thronfolger
Fiacha
Carolin Gröhl

 

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Stand:30.09.2010