Schatten des Vergessens

 

Teil 4

 

"Wir haben sie gefunden... wir haben Cor Cosh gefunden. Die verlorene achte Stadt."
Der Fianna blickte erschüttert auf und sein Blick traf den von Feach. Dieser schüttelte nur den Kopf und sah dann seinen Vater an.
"Die wirkliche Gefahr geht von jenem Wesen aus, das wir im Vorraum trafen. Ich glaube nicht, dass diese... diese Kreaturen hier uns allein gefährlich werden können. Deswegen müssen wir den Kopf des Ganzen ausschalten... und das möglichst ohne großes Aufsehen. Ich möchte mir nicht ohne Notwendigkeit eine blutige Schneise hauen müssen. Ihr Beide!", winkte er zu zwei Fianna, "verhört unseren Gefangenen. Ihr wisst, worauf es ankommt. Keine unnötige Gewalt!".
Damit wandte er sich ab und ging zum Wachtposten zurück, um sich selber ein Bild der Umgebung zu machen. Die dunklen Gänge, deren Böden mit Knochen bedeckt waren, erschienen unheimlich genug. Doch die in ihm brennende Frage, ob die Bewohner von Cor Cosh ebenfalls der Zeitmagie mächtig waren, ließ ihn nicht zur Ruhe kommen.

***

Nach einiger Zeit hörte er Schritte, Arkan folgte ihm. Seinem Gesicht war anzusehen, dass auch er beunruhigt war.
"Es ist ein sterbendes Volk. Einst zählten sie viele, nun nur noch ein paar Hundert. Anfangs kämpften sie noch gegen den Tod, inzwischen nehmen sie ihn einfach nur hin, begraben ihre Toten nicht. Der Boden ist ihr Friedhof, Sohn. Und... sie haben uns beobachtet, von Zeit zu Zeit. Sie neiden uns das Licht, das Lachen... wenn sie könnten wären sie schon längst über uns hergefallen. Aber sie können Cor Cosh nicht verlassen."
Er hob beschwichtigend seine Hand, als Feach etwas sagen wollte. Mit einem gequälten Lächeln fuhr er fort:
"Nur ihr Anführer weiß, wie er Cor Cosh verlassen kann, aber er hütet dieses Geheimnis, um seine Macht nicht zu gefährden. Er war es auch, mit dem wir sprachen, wenn auch nur sein Geist anwesend war. Diese Zustände hier... sie erleichtern und erschweren uns unseren Weg. Der Anführer, Ianrybh, wird nicht bewacht, da er keinem seiner Leute soweit traut. Aber seine Leute behalten ihn im Auge, um seine Schwachstelle zu finden. Wir müssen also auf der Hut sein. Verkleidungen wären gut."
Feach nickte wortlos, dann schloss er die Augen und verzog die Mundwinkel. Sorge keimte in Arkan auf, der sah, wie schlecht es seinem Sohn immer noch ging.
"Ich werde uns Verkleidungen besorgen. Du bleibst hier, die Fianna werden dich schützen."
Noch bevor Arkan protestieren konnte, verschmolz Feach mit den Schatten und tauchte tiefer in das Labyrinth der Gänge ein. Arkan ballte in hilflosem Zorn die Hand zur Faust und zog sich dann wieder zurück.

***

Nach einiger Zeit kam Feach zurück, unter dem Arm genug der schäbigen, stinkenden Roben, um ihnen als Verkleidung zu dienen. Widerwillig streiften sie den Stoff über, versuchten nur flach durch den Mund zu atmen, um dem Gestank zu entkommen. Ein Grinsen stahl sich auf Feachs Züge, als er seinen Vater beobachtete, der nun nicht mehr an den Herrscher der Tuach na Moch erinnerte. Ganz im Gegenteil. Doch dann wurde er wieder ernst.
"Als Gruppe fallen wir zu sehr auf, wir müssen uns aufteilen. Zu dritt bilden wir zwar immer noch ungewöhnlich große Gruppen für diese Gegend, aber zu sehr verstreuen sollten wir uns auch nicht. Ihr beide geht mit meinem Vater... und wenn ihm etwas zustößt solltet ihr besser bei seiner Verteidigung vorher gestorben sein. Auch ihr drei bildet eine Gruppe... und ihr beide kommt mit mir. Ich habe auf meinem Streifzug mich ein wenig umgesehen, hier ist eine grobe Skizze der Umgebung. Hier sind wir, dort liegt unser Ziel. Wenn es Probleme gibt... beseitigt sie möglichst lautlos. Wir können es uns nicht leisten, gegen alle Bewohner dieser Welt zu kämpfen. Noch Fragen? Nein? Dann sollten wir beginnen, je eher wir hier wieder herauskommen, umso besser."
Lautlos machten sie sich auf den Weg, ihren Gefangenen ließen sie gefesselt und geknebelt zurück, er würde sie nur behindern. Scheinbar sorglos schlurften sie durch die dunklen, von Schatten bewohnten Korridore, ohne Eile, innerlich jedoch jedem Geräusch hinterherspürend, jeden Schatten argwöhnisch musternd. Die Umgebung zehrte an ihren Nerven, ließ sie immer unruhiger werden, die Griffe ihrer Waffen fest umklammernd unter den tarnenden Roben. Näher und näher arbeiteten sie sich an ihr Ziel heran, vorbei an den Einwohnern von Cor Cosh, die ihnen keine besondere Aufmerksamkeit zu schenken schienen. Selten stießen sie auf Wächter, doch auch diese nahmen kaum Notiz von ihnen. Schließlich verließen sie die Gänge, betraten eine Kaverne von riesigen Ausmaßen. In ihr befanden sich die Gebäude von Cor Cosh, vage vertraut in ihrem Stil, doch düster und krank, wie aus einem Zerrspiegel. Unter der Decke der Kaverne gab es eine blasse Lichtquelle, die kalte Travestie einer Sonne, mit fahlem, kraftlosem Licht. In der Mitte der Gebäude ragte eine Zitadelle auf. Hohe Türme, verbunden mit geschwungenen Treppen über schwindelnden Abgründen. Doch überall zeigte sich der Zerfall und der schwindende Lebensmut der Bewohner. In grimmigem Schweigen drangen die Tuach na Moch in das Gebäude ein, schlichen durch die staubigen Gänge, deren Wände mit verblichenen Gemälden behängt waren. Schließlich kamen sie zu dem einst prunkvollen Doppelportal, das nun halbzerfallen in den rostigen Angeln hing. Die Wächter zu beiden Seiten wurden schnell und lautlos überwältigt, dann betraten die Gruppen gemeinsam den Saal. Auf einer Erhöhung stand der glänzende, goldene Thron, prachtvoll mit Edelsteinen besetzt. Auf ihm saß eine zusammengesunkene, uralte Gestalt, auf ihrem Haupt eine Krone.
Feach bedeutete zweien der Fianna, an der Tür Wache zu halten, dann trat er mit dem Rest seiner Begleiter näher. Als sie sich bis auf zehn Schritte genähert hatten, brachen die Fianna mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammen. Der Kopf der Gestalt hob sich langsam, ein verzerrtes Grinsen erschien auf den blutleeren Lippen.
"Ihr habt euch Zeit gelassen, was hielt euch auf? Die strahlenden Helden, schleichen wie Diebe durch meinen Palast. Seid ihr gekommen, um einen wehrlosen alten Mann zu töten, seinem Volk die letzte Stütze zu nehmen? Unschuldige in den Untergang zu treiben? Das konnte eure Brut ja schon immer am Besten, nicht?"
Sein Lachen erinnerte eher an das Keckern einer alten Vettel, Speichel rann ihm dabei aus dem Mundwinkel. Feach und sein Vater entledigten sich ihrer Verkleidungen, ohne Hast, dann sahen sie zu der Gestalt auf dem Thron hinauf.
"Wehrlos... das sagt Derjenige, der uns angriff? Der meine Männer auf dem Gewissen hat? Wobei ich es nicht als wehrlos bezeichnen möchte, was Ihr mit meinen Leuten tut. Lasst sie, wendet Eure faule Magie lieber auf mich an. Oder könnt Ihr gar einen Anführer nicht bezwingen, müsst Euch an seine Untergebenen halten? Ich dachte, ich stehe hier vor einem ebenbürtigen Gegner. Sollte ich mich geirrt haben?"
Arkan sah überrascht zu seinem Sohn hin. Hatte er den Verstand verloren? Wie wollte er einen derartigen Angriff überstehen, in seinem Zustand. Doch Feach wirkte ruhig, fast entspannt. Die Arme vor der Brust verschränkt, lächelte er seinen Vater an.
"Arkan, vielleicht sollten wir das Volk von Cor Cosh dazuholen. Damit es den Untergang der Fremden mit ansehen kann. Damit es seinem Herrscher zujubeln kann. Ich denke, das wäre nur angemessen."
'Nun ist der Junge komplett verrückt geworden', schoss es Arkan durch den Kopf. Die Gestalt auf dem Thron aber lachte.
"Ja, holt diese schwächlichen Kreaturen her. Damit sie meine Macht sehen und noch mehr fürchten lernen. Geht, eilt euch."
Eilig wandte sich Arkan um, rannte durch die leeren Gänge, bis er schließlich auf einem Balkon ein mit Grünspan überzogenes Bronzehorn fand. Der Klang dieses Hornes ließ die verwitterten Gebäude vibrieren, zog durch die Kaverne. überall ließen die gebeugten Wesen alles stehen und liegen und schlurften der Zitadelle entgegen. Dutzende, ja Hunderte kamen, sammelten sich schließlich in dem Saal, in deren Mitte immer noch Feach trotzig vor dem goldenen Thron stand.
"Hört, meine Sklaven! Hier vor euch stehen Eindringlinge, die es gewagt haben, sich gegen mich aufzulehnen. Sie wollten euren geliebten Herren töten. Die Strafe dafür kann nur der Tod sein. Seht, wie ich meine Feinde niederstrecke!"
Unbeeindruckt polierte Feach seine Nägel an seiner Tunika. Dann sah er auf.
"Ich bin der Sohn des Prinzen der Tuach na Moch. Unser Volk wurde von dieser Kreatur angegriffen. Mein Zwist ist nicht mit dem Volk von Cor Cosh. Im Gegenteil, euer Zustand bedrückt mich. Einst waren wir vom gleichen Blut, doch wir wurden getrennt. Doch immer noch sind wir Brüder. Wir reichen euch die Hände, wollen euch helfen... aber erst werden wir mit dem Aggressor abrechnen. Das Blut meines Volkes ruft nach Vergeltung... und ich werde diesem Ruf folgen."
Lächelnd begann er, auf das Podest zuzugehen. Nach dem ersten Schritt verzog sich sein Gesicht vor Schmerz, er strauchelte, doch hörte er nicht auf, zu gehen. Die Gestalt auf dem Thron reagierte erschrocken, verstärkte dann ihre Anstrengungen. Schließlich nahm sie ihre Aufmerksamkeit von den Fianna, die langsam begannen, sich aufzurichten. Einige wollten ihrem Anführer folgen, doch Arkan hielt sie zurück – dies musste Feach alleine bestehen, so gut kannte er seinen Sohn. Mit Sorge sah er zu seinem Sohn, sah den Schmerz und die Mühe, die es Feach kostete, weiterzugehen. Doch schließlich stand er direkt vor dem Thron. Entsetzen zeichnete sich auf dem Gesicht der Gestalt ab, als Feachs sehnige Hände sich um seinen Hals legten. Krächzend versuchte er, mit seinen Krallenfingern den Griff des Tuach na Moch zu brechen, doch vergeblich. Der Schmerz, der in Feach tobte, ließ seinen Griff immer fester werden.
Die Einwohner von Cor Cosh aber standen reglos um das Geschehen herum. Kein Laut war von ihnen zu hören, niemand bewegte sich. Aber ihre Augen sogen das Geschehen in sich auf. Als der Blick ihres Herrschers brach und sein Genick krachend barst senkten sich ihre Häupter und sie sanken auf die Knie. Feach zog seine Klinge, trennte das Haupt des Toten ab und ließ es achtlos fallen. Dann wandte er sich um.
"Unsere Toten sind gerächt. Wir haben keinen weiteren Zwist mit euch. Ihr aber seid nun frei, keine Sklaven mehr. Baut eure Stadt wieder auf, wir werden versuchen einen Weg zu finden, euch zu helfen. Dazu müssen wir aber erst herausfinden, wie unsere Welten zueinander finden können. Lasst ab von Hass und Zorn. Wählt einen Anführer, der gerecht und gut ist. Werdet wieder zu dem Volk, das ihr einmal wart... und das ihr wieder sein könnt. Wir sind vom gleichen Blut, durch die Zeit getrennt. Doch nicht für immer. Eines Tages werden wir uns wieder begegnen. Doch nun, da eure Unterdrückung..."
Die Umgebung um sie herum verblasste, die Zeit schien sich um sich selbst zu krümmen. Dann fanden sich die Tuach na Moch zu ihrer überraschung wieder in der Halle, in der alles begonnen hatte. Doch diesmal war die Tür offen, und von draußen kam der warme Schein der Sonne herein. Feach sah Arkan an, öffnete erneut den Mund... und brach zusammen. Die Strapazen waren zu viel für ihn gewesen. Seine Fianna hoben ihn auf die Arme, dann machten sie sich langsam auf den Rückweg. Der Sieg schmeckte schal, zu groß waren die Verluste gewesen. Aber vielleicht würden sie eines Tages wieder ihre verlorenen Brüder in die Arme schließen können. Dann würden die Toten in Frieden ruhen können.



 

Ende

 

Schatten des Vergessens, Teil 4
Feach MacLlyr
Bernd "Camo" Meyer

 

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Stand:11.03.2011