Schatten des Vergessens

 

Teil 1

 

Es war Nacht im Reich der Tuach na Moch. Eine einsame Gestalt wanderte alleine durch die leeren regennassen Gassen der Stadt, deren Laternen nur mühsam der Dunkelheit ein paar Zoll ihrer Schwärze streitig machen konnten.
Plötzlich wurden die Umrisse der Person unscharf und wandelten die Silhouette in einen diffus glimmenden Nebel. Als sich die Konturen immer weiter verflüchtigten, erschien in ihrem Zentrum ein blau-weißes Leuchten, das immer intensiver wurde, bis es schließlich in einem blendenden Blitz verlosch.
Die Straße lag wieder verlassen da, von der Gestalt war nichts mehr zu sehen, als habe die Finsternis alles Leben in ihren Schlund gesogen.

Feach MacLlyr überwachte gerade das Training seiner Fianna, als ihm ein Bote auffiel, der hastig suchend umherblickte. Ohne die Übungen seiner Leute aus den Augen zu verlieren, machte Feach mit einer kleinen Geste auf sich aufmerksam und ging ihm entgegen.
"Hauptmann, Ihr sollt sofort in den Palast kommen. Euer Vater hat eine Versammlung einberufen. Es ist dringend!"
Mit einem Nicken bestätigte Feach ihm, dass er verstanden hatte, drehte sich zu seinen Leuten um und bellte einen Befehl. Sofort wurden die Kämpfe unterbrochen, und die Männer und Frauen eilten zu ihren Unterkünften. Ihr Anführer jedoch verfiel in einen raumgreifenden Trab, der ihn in kürzester Zeit zum Palast brachte. Dort lief er an den Wachen vorbei, beantwortete die Respektsbezeugungen mit einem gereizten Brummen und erreichte schließlich den Raum, in dem er erwartet wurde. Alle Köpfe wandten sich ihm zu, als er die Tür aufstieß und eintrat, die Anwesenden der Reihe nach musternd. Die Berater Arkans, seine ehemaligen Berater, wichen seinem Blick aus, nur sein Vater hielt seinen Augen stand. Schwer ließ Feach sich auf einen Stuhl fallen, stützte den Kopf auf und seufzte hörbar.
"Nun, auf welche Weise geht die Welt heute unter? Ist der Alkohol zur Neige gegangen? Hat sich meine Stiefmutter erkältet? Besteht die neue Aufgabe meiner Leute darin, die Straßen sauber zu halten?"
Deutlich war der beißende Sarkasmus in seiner Stimme zu hören. Doch der besorgte Ausdruck in Arkans Augen ließ ihn verstummen und zuhören.
"Mein Sohn, wir haben ein Problem. Und nein, es besteht nicht in den Katastrophen, die du aufzähltest," ein Lächeln stahl sich auf das ansonsten ernste Gesicht des Prinzen der Tuach na Moch, "es geht vielmehr darum, dass in den letzten Tagen immer mehr unseres Volkes aus unserer Mitte gerissen werden. Es wurde beobachtet, dass sie sich scheinbar in Nebel auflösten und dann in einem hellen Licht verschwanden. Wir müssen handeln, diese Dinge müssen aufhören. Lange, sehr lange waren wir hier in unserem Reich sicher. Nun ist es anscheinend, warum auch immer, mit dieser Ruhe vorbei. Du und deine Fianna, ihr müsst etwas tun... wenn ich auch zugeben muss, dass ich nicht weiß, was ihr dagegen unternehmen könntet. Aber ich vertraue darauf, dass ihr eine Lösung finden werdet, wie immer. Falls ihr irgendetwas brauchen solltet, werdet ihr es erhalten. Aber sorgt dafür, dass unser Volk wieder sicher ist und sich frei bewegen kann, ohne fürchten zu müssen einfach zu verschwinden."
Feach ließ sich nicht anmerken, wie sehr er ihn diese Eröffnung erschreckte. Es gab keine Feinde, die sie in ihrem eigenen Reich angreifen konnten. Niemand konnte von der Oberwelt hierher, ohne dass sie es gestatteten. Und der Gedanke, dass ein Tuach na Moch etwas Derartiges tun könnte... nein, das konnte er sich nicht vorstellen. Ruckartig erhob er sich, knurrte etwas, das sein Vater als offensichtliche Bestätigung der Anordnung entgegen nahm, und ging dann zur Tür. Bevor er den Raum verließ und die besorgte Versammlung wieder ihren Gedanken überließ, drehte er sich noch einmal um und sah seinen Vater an. Mit belegter Stimme bat er um die Berichte sämtlicher Vorfälle, dann eilte er fast fluchtartig aus dem Raum, um die Fianna zu alarmieren.

Nach und nach trafen die Berichte bei ihm ein. Je weiter er sich mit den Vorfällen befasste, desto größer wurde seine Bestürzung. Immer mehr Tuach na Moch verschwanden ohne eine Spur... und vor allem, ohne dass er sich erklären konnte, wie dies geschah. Wieder und wieder ging er die Berichte in seinen Gedanken durch. Eine Einwirkung von der Außenwelt war recht unwahrscheinlich.
Andererseits lagen diese Dinge auch jenseits dessen, was nach seiner Kenntnis jemand seines Volkes vollbringen konnte. Wären diese Vorfälle das Ergebnis von Zeitmagie hätte irgendjemand etwas bemerken müssen. Das Entfernen von Personen aus der Zeit würde eine Erschütterung im Zeitgefüge nach sich ziehen, die selbst ein Kind hätte wahrnehmen können. Moch selbst hätte es wahrnehmen müssen! Diese Möglichkeit fiel also auch aus. Aber was konnte es nur sein? So sehr er auch darüber nachdachte, er kam zu keinem Ergebnis. Ruckartig sprang er vom Tisch auf. Alleine kam er nicht weiter, er verrannte sich nur immer wieder in dieselben Gedankengänge, die zu nichts führten.
Mit einem ärgerlichen Knurren raffte er die Papiere zusammen und verließ das Zimmer. 'Also gut’, dachte er, 'Wenn einen das Wissen der Gegenwart nicht weiterbringt, kann vielleicht die Vergangenheit helfen...’

Während der uralte Tuach na Moch sich den Bericht anhörte, musterte er Feach MacLlyr eingehend. Er war schon lange nicht mehr der Knabe, den er einst aufgezogen hatte, und er hatte sich in den letzten Jahren zusehends verändert. Ruhiger war er geworden, nachdenklicher und, was am wichtigsten war, er schien endlich mit sich selbst im Reinen zu sein. Der Unruhe und der Wut, die Feach jahrelang beherrscht und geprägt hatten, waren Ruhe und Selbstsicherheit gewichen. Obwohl er nicht genau wusste, welche Ereignisse diese Wandlung hervorgerufen hatten, war er doch erleichtert und zufrieden das Resultat zu sehen.
"Ein interessanter Fall, mein Junge. Leider habe ich bisher noch nichts Vergleichbares gesehen oder gehört. Aber verzweifle nicht, ich werde sehen, was ich tun kann, um dir zu helfen. Da fällt mir ein: Habt ihr nicht im Palast eine Frau, die die alten Schriften in der Bibliothek seit ihrer Ankunft in unserem Reich studiert? Das wäre eventuell hilfreich. Wie war noch der gleich der Name? Sicherlich finde ich auch etwas heraus, ich brauche nur etwas Zeit, schließlich bin ich nicht mehr der Jüngste.“
Ein Lächeln huschte über Feachs Gesicht. Wie immer schaffte es der Alte, ihn durch seine besonnene Art zu beruhigen. Nun blieb nur noch zu hoffen, dass er in seinen Erinnerungen etwas entdeckte, das ihn zumindest ein kleines Stück der Lösung dieser unerfreulichen Vorgänge näher brachte.
"Arrawn, verzeih, ich bin mir nicht sicher, ob wir noch viel Zeit haben. Aber ich denke, dass du in deinem reichen Erfahrungsschatz vielleicht etwas finden könntest, was mir hilft. Und sei es auch nur ein Gerücht oder ein Bruchstück, im Augenblick bin ich für jeden Fingerzeig dankbar. So etwas ist mir noch nie untergekommen, - aber irgendwo muss die Lösung liegen. Es muss einfach so sein!"
Frustriert schlug er mit der Faust gegen die Wand. Dann schüttelte er den Kopf und wandte sich der Tür zu. Den Knauf in der Hand verharrte er jedoch und drehte sich noch einmal um.
"Ich werde meine Fianna aussenden, vielleicht erfahren sie etwas. Ich selbst werde jede wache Minute auf den Straßen verbringen, um den oder die Schuldigen zu finden. Doch ich glaube nicht, dass wir Erfolg haben werden. Im Augenblick bist du meine größte Hoffnung, was die Lösung dieses Problems betrifft. Ich bitte dich, hilf mir... hilf unserem Volk. Lass uns nicht im Stich, Arrawn. Und was diese Frau angeht, so kannst du nur die Druidin meinen, die im Palast lebt. Chat Bidu ist ihr Name.“
Mit diesen Worten nickte er seinem Ziehvater noch einmal zu, dann verließ er die einsam gelegene Hütte, bestieg sein Pferd und ritt zurück nach Cor Dhai, um sich weiter der Lösung des Rätsels zu widmen und die Druidin aufzusuchen.

Chat Bidu sah überrascht von einem Stapel Pergament auf, hinter dem die kleine Frau fast verschwand. Feach hatte schon eine Zeitlang an der Türe gestanden und sich, ihre intensiven Studien betrachtend, gefragt, wie jemand nur so vertieft sein konnte, dass er nichts um sich herum noch wahrzunehmen schien.
Er lächelte, als er ihren fragenden Blick auf sich ruhen sah und verneigte sich.
„Hauptmann? Welch seltener Besuch. Sucht Ihr irgendetwas?“ Ihre dunkle Stimme spiegelte die Überraschung über seine Anwesenheit wieder.
„Ich entschuldige mich, falls ich Euch erschreckt haben sollte, aber eine Horde von Banditen hätte hier ein Saufgelage feiern können, ohne dass es den Anschein gemacht hätte, dass Ihr das mitbekämt,“ brummte Feach, „Ihr seid es, die ich suche.“
Die Frau trat um den Tisch herum auf ihn zu, und ihre grünen Augen musterten ihn lange abschätzend von Kopf bis Fuß, als habe er sie nach der Richtigkeit seiner Garderobe gefragt, und er konnte ein missmutiges Tippen seiner Stiefelspitzen nur schwer unterdrücken. Plötzlich, als sei sie aus tiefen Überlegungen gerissen worden, trat sie näher an ihn heran und sah ihm direkt in die Augen.
„Ich glaube kaum, dass Ihr meinen Rat wünscht in Bezug auf eine Bettlektüre,“ sagte sie leise und ihre Haltung verriet eine konzentrierte Wachsamkeit. Feach seufzte und schüttelte den Kopf. „Es geht um etwas wirklich Übles, und ich hoffe, dass Ihr mir ein wenig Zeit opfert.“
Chat Bidu nickte nur kurz und wies dem Hauptmann einen Stuhl zu.
Er berichtete ihr von dem Verschwinden der Leute, von den Beobachtungen und den Einzelheiten aus den Berichten, an die er sich noch erinnern konnte und die ihm wichtig erschienen.
„Und auf nichts konnte ich bisher eine Antwort finden,“ beendete er zornig seine Erzählung.
Die Druidin war während des ganzen Berichtes langsam auf und ab gegangen und stand schließlich mit verschränkten Armen vor ihm, lässig an das wandeinnehmende Regal gelehnt. Sie hatte die Augen geschlossen und seufzte.
„Das ist wahrhaftig übel, und ich bezweifle, dass ich Euch viel weiterhelfen kann. Aber ich verspreche Euch, dass ich etwas finden werde, wenn es etwas hier zu finden gibt.“
Der Hauptmann nickte. „Mehr erwarte ich von Euch nicht, Chat Bidu,“ knurrte er und öffnete die Tür.
„Hauptmann?“
Feach drehte sich zu der kleinen Frau um. Sie stand noch immer an dem Regal und lächelte ihm ermutigend zu.
„Manchmal findet man nur die richtige Antwort, wenn die Frage stimmt.“ Dann wandte sie sich suchend der Regalwand zu.

 

Ende Teil 1

 

Schatten des Vergessens, Teil 1
Feach MacLlyr und Chat Bidu
Bernd "Camo" Meyer und Britta Durchleuchter

 

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Stand:30.09.2010