Murmel um Murmel

 

Heute ist es soweit, heute wird sie offiziell mit allen Pflichten und Rechten Mitglied der Fianna. Ganz natürlich, daß sie an einem solchen Tag einen besonders guten Eindruck hinterlassen will.
Sie setzt sich in ihrem Zimmer im Kristallpalast an den Spiegel und beginnt ihr Haar zu bürsten. Bei dieser nicht sehr komplizierten Tätigkeit läßt sie immer gerne ihre Gedanken schweifen.
"Brianna von den Fianna!" Ob sie das wohl Zeit ihres Lebens hören würde? Zumindest war dies das Motto des Festes, ihr zu Ehren, gestern Abend gewesen.
Briannas Blick gleitet unwillkürlich, vom Spiegel reflektiert, über ihr Zimmer. Eine eigentlich eher karge Einrichtung: ein Kleiderschrank, eine Kommode, ein Stuhl, ein kleiner Schreibtisch bestückt mit Papier, Feder und Tinte und ein pritschen-ähnlich wirkendes Bett vervollständigen das Bild.
Ihre Augenbrauen ziehen sich zusammen. Da ist etwas am Rande ihres Bewusstseins, das sie nicht greifen kann.
Ihre Aufmerksamkeit wendet sich ihrer eigenen Person zu. Lange, dunkelbraune Haare, braun-grüne Augen, helle Haut, volle Lippen und eine stämmige Gestalt. Eigentlich ist sie ein eher stiller Typ. Das Markanteste an ihr ist eindeutig ihr Lachen. Dies macht aber wohl, so sagt man, auch einen großen Teil ihres Charmes aus. Wobei sie findet, daß ihr Lachen eigentlich hinterhältig klingt.
Da ist es schon wieder, - dieses Mal ein Bild. Ein Erinnerungsfetzen.
Sie sieht vor ihrem inneren Auge das Gesicht eines Mannes. Seine Erscheinung ist ihrer sehr ähnlich. Auch er hat das für ihre Familie Teach na Muria typische Aussehen.
Wie sie es im Training gelernt hat, befreit sie ihren Kopf von allen Gedanken, außer diesem Bild. Die Erinnerungen werden vollständiger...

...sie sieht ein Haus, - ihr altes Heim Ein paar Schritte bringen sie zur Tür. Die ganze Szene erscheint ihr wie ein Traum.
Sie betritt das Haus, ohne die Tür bewusst geöffnet oder durchschritten zu haben. Der Anblick, der sich ihr bietet, ist ein idyllisches Familientreffen.
Viele Leute sind da. Die meisten Gesichter sind verschwommen, eher gefühlsmäßig, als daß sie es wirklich weiß, ist ihr klar, daß es sich hierbei um ihre ganzen Verwandten handelt.
Intuitiv weiß sie aber auch genau, daß irgendetwas vollkommen falsch ist.
Wiederum läßt sie den Blick schweifen. Festtafel, Stühle, ein Buffet, das aufgebaut ist, die Hausbar, einstmals gut bestückt, nun kurz vor der Neige stehend.
Plötzlich taucht ein Gesicht auf, eines der wenigen, welche sie klar erkennen kann, ein kleines Mädchen, das herumläuft und quengelt.
"Gib mir auch Wein, Papa, bitte."
"Nein Bri, dafür bist du wirklich zu klein, geh zu deiner Mutter und bitte sie um etwas Saft!".
Als sie wieder zum Sprechen ansetzt, blickt ihr Vater streng auf sie herab.
"Nun?".
"Ist gut Papa, danke".
Das Mädchen läuft fort, anscheinend Richtung Küche.

Plötzlich werden Fenster eingeschlagen, schwarz-vermummte Gestalten stürmen auf diesem Weg in das Haus.
In Brianna verkrampft sich alles, diese Gestalten scheinen direkt aus ihren schlimmsten, immer wiederkehrenden Albträumen in dieses Haus gesprungen zu sein. Ihr Blick wendet sich ihrem Vater zu, welcher in der auch für sie so typisch gewordenen Geste (den rechten Arm erheben und die Hand gegen den Uhrzeigersinn drehen) versucht, die Zeit anzuhalten, und es geschieht ... nichts.
Die Vermummten bedrängen ihn und die anderen ihrer Familie, und ziemlich schnell wird klar, daß keiner diesem entsetzlichen Angriff etwas entgegenzusetzen hat.
Ein paar der Vermummten wenden sich nun der Küche zu, während die anderen ihr blutiges Massaker im Wohnraum beenden.
Die Kriegerin in Brianna bewundert die straff durchorganisierte Arbeit, die diese Meuchler hier leisten, genau wie diese schreitet sie zur Küche. Bevor sie die Küche noch erreicht, hört sie plötzlich Hufgetrappel. Dies scheint nicht zum Plan der Vermummten zu gehören, denn diese sehen sich verblüfft um und machen sich zum Rückzug bereit.
Brianna schreitet weiter zur Küche, ihr bietet sich ein Bild, das ihr schier das Herz zerreißen will. Ihre Mutter steht vor dem Herd mit einem langen Bronzemesser in der Hand, vor ihr befinden sich drei der schwarzgekleideten Männer. Das kleine Mädchen kann Brianna nicht sehen. Die drei stürmen auf ihre Mutter zu und kreisen sie mit erhobenen Waffen ein. Die Männer scheinen zuerst mit ihrer Mutter zu spielen, ein tödliches Spiel, als eine ihrer Klingen sie an der Schulter verletzt.

Gequält schlägt Bri die Augen nieder. "Bitte... nicht noch einmal, nicht heute, das ertrag ich nicht."

Plötzlich springt die Tür zum Wohnzimmer auf und ein Mann bahnt sich mit Hilfe der Sichelklinge seinen Weg durch die drei Meuchler. Mit wenigen Hieben bringt er den Tod unter die Vermummten. Er ist mit einem dunklen, wallenden Umhang bekleidet, ihm dicht auf folgen zwei Angehörige der berühmten Fianna. Diese zwei sind gekleidet in einem grünen Umhang, mit goldener Borte abgesetzt, und schwingen ebenso bedrohlich ihre Fianna-Waffen, die "Sichelklinge".
"Im Wohnzimmer ist alles gesichert, leider konnten wir keinen der Eindringlinge lebend erwischen, Hauptmann MacLlyr."
Der Mann im dunklen Umhang wendet sich dem Sprechenden zu.
"Kann man denn die Meuchler identifizie-ren?"
"Leider nein..., sie müssen ein Gift genom-men haben, das den Körper komplett auflöst." Mit einem Schulterzucken fügt der Fianna hinzu: "Es ist nicht mehr als grüner Schleim übrig, also nichts, was man noch identifizieren könnte, außer der Kleidung, und da gehen wir davon aus, daß keine Hinweise zu finden sein werden".
Bevor der Hauptmann noch auf diese Bemerkung reagieren kann, entfaltet bereits das Gift bei den Meuchlern in der Küche seine Wirkung. In kurzer Zeit beginnen die Körper zu dampfen und sich aufzulösen. Der Raum füllt sich mit einem süßlichen Geruch.
"Verdammt! Sind denn noch andere Angehörige der Familie am Leben?"
Auf diese Frage hin vom Hauptmann wendet sich einer der Fianna zum Wohnzimmer und gibt die Frage weiter.

Als Antwort nur Schweigen.

In der Küche selber tritt Fiona langsam auf den Hauptmann zu. Sie blutet aus verschiedenen Wunden.
Hauptmann MacLlyr wendet sich der verletzten Frau zu und hält ihr eine Phiole hin, die er aus den Falten seines Umhangs hervorgezogen hatte.
"Trinkt das, Frau d´elazar, Ihr werdet eine Zeitlang schlafen, aber es wird nicht der Schlaf Mochs sein, aus diesem hier werdet Ihr gesundet wieder erwachen."
"Meine kleine Tochter, mein Gatte," entgegnet die Frau kraftlos: "wie geht's ihnen, und wo sind sie?"
Nicht fähig, der Frau in die Augen zu schauen, antwortet der Hauptmann: "Euer Mann ist wohl im Wohnzimmer, Eure kleine Tochter haben wir noch nicht gefunden, aber bitte nehmt nun diesen Trank zu Euch."
Sachte und keinen Widerspruch duldend setzt er ihr die Phiole an die Lippen und langsam lässt er die kristallklare Flüssigkeit in ihren Mund tropfen. Wissend, daß die Frau gleich in den erholsamen Heilschlaf fallen würde, umschlingt er ihre Taille, um sie sanft zu Boden gleiten zu lassen..
Der Hauptmann läßt den Blick suchend durch die Küche schweifen.
"Kleine Tochter, hmm, wo könntest du wohl sein?"
Er steht auf und geht langsam zu den Schränken. Systematisch beginnt er damit, diese zu durchsuchen.
Im bereits erkalteten Herd wird er fündig, ein kleines Mädchen, dessen Gesicht fast nur aus Augen zu bestehen scheint, rußverschmiert und verängstigt, schaut zu ihm auf.

Selbst nach so vielen Jahren erinnert sie sich kristallklar an den Moment, an dem sie Hauptmann Feach MacLlyr e´dhelcú von den Fianna das erste Mal erblickte.

Feach, der dunkle Prinz, von dem jedes Mädchen im Hügelreich träumt. Innerlich lächelt Brianna nun über diese Mystifizierung und Romantisierung ihrer Kindheit und Jugend des doch sehr normalen Hügelmannes.
Deutlich sieht sie noch die Ankunft ihrer Mutter Fiona d´elazar und ihrer selbst im Kristallpalast vor sich.

"Werden wir hier wohnen, Hauptmann?" Sie selber saß auf den Bock der Kutsche, welche ihre immer noch sehr geschwächte Mutter transportierte. Hauptmann Mac Llyr ritt neben der Kutsche. Mit merklichem Stolz in der Stimme sagte er: "Ja, dies ist der Kristallpalast, euer zukünftiges Heim."

Die nächsten Jahre vergingen wie im Flug. Da ihre Mutter sich mehr und mehr in ihr Schneckenhaus zurückzog, wandte sich Brianna zuerst Hauptmann MacLlyr als älteren Berater zu.
In ihren ersten Jahren im Palast lebte sie sehr einsam und gab sich zusammen mit ihrer Mutter weitgehend dem Schmerz über den Verlust ihrer Familie hin. Nach einer Weile regte sich in ihr aber das Kind, das auf sein Recht bestand zu spielen, Spaß zu haben und besonders Feach zu ärgern.
Der Hügelprinz Arkan e´dhelcú, Feachs Vater und verantwortlich für die freundliche Aufnahme im Kristallpalast, nahm in ihrem Bewusstsein eine eher untergeordnete Rolle ein.
Der Kristallpalast war eine wahre Fundgrube an Möglichkeiten, wenn sie mal nicht gesehen werden wollte, und es gab genügend Verstecke. Sie fand Geheimgänge und entwickelte ein erstaunliches Talent darin, unvermutet irgendwo aufzutauchen, um Schabernack zu treiben und Diener damit zu ärgern.
Im Kindes- und Jugendalter gehörte es zu ihren Lieblingsspielen, Feach aufzuspüren, welcher immer mehr vom Idol zum Mann ihrer Träume wurde.
Dieses Auffinden der Geheimgänge führte aber auch zu einem jähen Verlust ihrer erwachenden Verliebtheit.
In den langen Jahren des Versteckens hatte sie sich zu einer Expertin der lautlosen Fortbewegung entwickelt. So begab es sich, daß die inzwischen voll in der Pubertät stehende Brianna auf einen Gang stieß, der zu den Gemächern des Hauptmannes führte. Der Geheimgang endete hinter einer Wand im Zimmer Feachs, sie hatte ihn bereits seit längerer Zeit nicht mehr gesehen und konnte sich nur schwer zurückhalten ihn ausfindig zu machen. Einerseits wollte sie sofort zu ihm laufen, andererseits konnte sie sich nur allzu gut an die letzte Begegnung mit Feach erinnern. Zu jenem Zeitpunkt hatte sie ihm einen harmlosen Streich spielen wollen und wurde von ihm erwischt.
"Streich? Pah! Das letzte mal bin ich so rot wie der Sereg Ran geworden, als ich ihn gesehen habe." Verärgert über sich selbst schüttelte sie den Kopf. "Ausserdem muß ich mit diesen senilen Selbstgesprächen aufhören."
Sie presste ihr Ohr ganz dicht an die Wand, da sie von drinnen Stimmen hören konnte. Eine war die vom Hauptmann, die andere Stimme kannte sie nicht.
Sie war weiblich. Briannas Herz schlug ihr bis zum Hals, teils aus Angst entdeckt zu werden, teils aus Angst, was sie dort hören würde. Die Worte konnte sie nicht erkennen - die charakteristischen Geräusche leider schon.
Sie erstarrte und konnte sich die ganze Zeit nicht von der Stelle bewegen. Tränen rannen ihr unaufhörlich über die Wangen. Als Feach und seine Angebetete schließlich das Schlafgemach verließen, brach das letzte bißchen Selbstbeherrschung in Brianna zusammen. Weinend sank sie auf die Knie, sie weinte bis keine Tränen mehr kamen und sich nur noch trockene Schluchzer aus ihrer Kehle quälten.
Die Zeit schien stillzustehen.
Schließlich, als ihres Erachtens nach schon der ganze Tag und die darauffolgende Nacht vergangen sein mußten, stand sie mit zitternden Knien auf.
Langsam ging sie zurück zu ihrem Zimmer, welches sich direkt neben dem ihrer Mutter befand.
Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit, schlug sie die Tür zum Flur heftig zu, um ihrer Mutter mitzuteilen, daß sie anwesend war und sofort beachtet werden wollte. Dies zeigte auch seine Wirkung. Fiona kam sofort in Briannas Zimmer.
"Bri, was ist denn los, und wo, bei Mesg, warst du?"
Ein Blick in das Gesicht ihrer Tochter reichte, und sie vergaß die Vorhaltungen, die sie ihr machen wollte. Fionas eigene andauernde Qual wurde beiseite gescho-ben und sanft zog sie ihre Tochter in den Arm.
"Was ist denn, Liebes? Wieder diese Albträume?"
Da Brianna sich ob ihrer Gefühle und ihrer eigenen Dummheit schämte, nickte sie nur auf die Fragen ihrer Mutter hin und schlang die Arme ganz fest um deren Leib.

Ungefähr ein Jahr gab sie sich ihrem Selbstmitleid hin, dann faßte sie den Entschluß, daß es Zeit war, ihre Energien und die Zeitmagie, die sich in ihr entfaltet hatte, sinnvoll zu nutzen.
Auch die Tatsache, daß ihre Mutter in den seit ihrem Einzug vergangenen 75 Jahren nicht bereit war, wieder aktiv am Leben teilzunehmen, bestärkte sie in ihrem Entschluß.
Sie begann sich umzusehen, welche Zukunft denn für sie in Frage käme. Sie holte Erkundigungen über die in Frage kommenden Berufe ein.
Brianna war klar, daß es für ihren eigenen Seelenfrieden unabdingbar war, die Hintergründe über die Ermordung ihrer Angehörigen aufzudecken.
"Ich muß einen Weg wählen, der mich einflußreicher macht. Einen Weg, der mir die Möglichkeiten gibt, die Mörder meiner Familie zu finden."
Ein Bild kam ihr in Gedanken. Als sich in jener unheilvollen Nacht die Klappe vom Herd öffnete und das Gesicht Feachs ihr entgegenblickte.
"Ich gehe zu den Fianna! Und selbst, wenn ich die Verantwortlichen nicht finde, so kann ich doch dafür sorgen, daß so etwas nie wieder geschieht."

So bestärkt begann sie, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Erst besorgte sie sich das Einverständnis des Hügelprinzen Arkan.
Was diesen zur Gutheißung ihres Anliegens bewog, wissen allein die Götter. Vielleicht dachte er auch, daß Brianna die harte Ausbildung eh nicht durchstehen würde, und wenn doch, dann wäre die Entscheidung auf jeden Fall richtig.
Mit dem Einverständnis des Hügelprinzen in der Hand ging sie dann sogleich zu Feach.
Man konnte immer froh sein, wenn er mal im Kristallpalast in Cor Dhai war. Der Hauptmann war überhaupt nicht glücklich über ihre Entscheidung, konnte aber ihre Motive verstehen.
"Nun denn, wenn du meinst, daß dies dein Weg ist, dann mußt du ihn beschreiten."
Nun kam der schwerste Gang. Sie wollte unbedingt den Segen ihrer Mutter haben.
Doch nur selten hatte sie sich so in ihrer Mutter getäuscht. Fiona sagte mit ihrer wie üblich abwesenden Stimme: "Schon gut, Schatz, mach, was immer du willst."
Brianna brauchte nur kurze Zeit ihre Kleidung und anderen Habseligkeiten zusammenzupacken, ihr Zimmer zu verlassen und ihrer Mutter noch ein "Bis dann" zuzurufen.
So begann ihre Ausbildung bei den Fianna. Sie selber hatte sich bereits das Schleichen beigebracht, aber das war nicht einmal der Anfang ihrer dreißig Jahre dauernden Ausbildung. Der waffenlose Kampfstil der Fianna, das Fian-Ragh, wurde ihr beigebracht. Sie lernte, wie man sein eigenes Potential an Zeitmagie wirkungsvoll in diesem Kampfstil einsetzt und so dem Gegner einige unliebsame Überraschungen bereiten kann. Auch der Wert und das Erhalten des eigenen inneren Gleichgewichts wurden ihr beigebracht.
Die Fianna sind aber nicht nur im waffenlosen Kampf ausgebildet, sondern auch der Umgang mit dem Blasrohr, Langbogen und Kurzschwert wird gefordert. Die letzte Kampftechnik, die zeitintensivste neben dem Fian-Ragh, die sie lernte, war der Umgang mit der Sichelklinge.
Dies wird aus gutem Grund so gehandhabt. Zu Beginn der Fianna hatten sich leider viel zu viele Unfälle im Umgang mit dieser Waffe eingestellt. Einige waren sogar tödlich gewesen.
Die Kunst des Umgangs mit dieser Waffe liegt darin, daß man sowohl das innere als auch das körperliche Gleichgewicht gefunden haben mußte. Die todbringenden Schwünge dieser Waffe können einen Ungeübten aus dem Gleichgewicht bringen, und somit die eigene Waffe zur Gefahr für Leib und Seele werden lassen.

Sie schüttelt den Kopf, um auch die letzten Erinnerungsfetzen loszuwerden. In diesem Moment klopft es an ihrer Tür, und eine weibliche Stimme fragt: "Brianna, darf ich eintreten?"
"Bitte, Mutter, komm doch herein."
Eine wesentlich älter aussehende Frau, als noch eben in der Erinnerung, betritt den Raum. Sie ist in einem einfachen, schmucklosen, schwarzen Gewand geklei-det. Sie wirkt verhärmt mit gramgebeugten Schultern. Ihre dichten, zum Dutt hoch-gesteckten Haare sind von grauen Strähnen durchzogen.
"Kind, du bist ja fast noch nicht angezogen".
"Mutter," entgegnet Brianna augenzwinkernd "es ist ja nun nicht so, daß ich keine Zeit hätte, oder?".
"Nur, weil du mal wieder lieber herumträumst, als fertig zu werden, kannst du nicht einfach mit der Zeit spielen," stellt ihre Mutter brüsk fest. Sie geht zum Kleiderschrank öffnet diesen und holt Briannas festliche Uniform heraus.
"Weißt du eigentlich, daß ich verdammt stolz auf dich bin, Bri?"
Brianna holt tief Luft. "Mutter...", beginnt sie "...nein, unterbrich mich nicht. Warum sind wir eigentlich hier im Kristallpalast? Ich kann mich an ein Haus erinnern, an meinen Vater, an Onkel und Tanten, an Großmutter und Großvater, sogar an Freunde unserer Familie, wo sind die alle hin, warum wurden wir hier nie besucht?"
Ihre Mutter wirft ihr einen schmerzerfüllten Blick zu.
"Nein, Mutter, diesmal kein Verstecken hinter waidwunden Blicken." Innerlich wird Brianna kalt wie Eis. "Du hast mal gesagt, daß du mir, wenn nur genug Zeit vergangen ist, die Ursache meiner Albträume erklärst. Also meinetwegen kann ich jetzt hier an Ort und Stelle dafür sorgen, daß noch mehr Zeit vergeht, aber wir leben seit über hundert Jahren im Palast. Ich bin auch allen sehr dankbar, daß wir hier aufgenommen wurden. Aber, Mama, wo sind meine Wurzeln, wer war meine Familie?"
Unbeabsichtigt hat sich ihre Stimme bereits erhoben und gerade noch rechtzeitig kann sie sich bremsen, bevor sie in ein unbeherrschtes Brüllen verfällt.
"Meinst du nicht auch, Mama, daß ich sowohl alt genug bin, als das auch genug Zeit vergangen ist? Bitte, ich muß es wissen. Was ist damals genau passiert?".
Müde setzt sich ihre Mutter Fiona aufs Bett, gedankenverloren streicht sie eine Strähne ihres Haars zurück, die sich aus dem strengen Dutt gelöst hat.
"Es war Cabwdl (1). Die ganze Familie war versammelt, wir wurden überfallen, und sie sind alle gestorben. Du hast das in deinen Albträumen wahrlich schon oft genug gesehen, mußt du immer wieder die gleichen Fragen stellen?"
Ihre Mutter nimmt den Kopf hoch und blickt sie zornig an. Brianna weiß, daß sie nun nicht nachgeben darf, oder sie würde nie die Gründe erfahren. Innerlich festigt sie sich noch mehr, um ihrer Mutter die, wie sie hofft, letzte Frage an zu stellten:
"War es Vater nicht wert gerächt zu werden?"
Ihre Mutter wirft ihr einen ungläubigen Blick zu. Zum ersten Mal sieht Brianna ihre Mutter, von einer plötzlichen Kraft getrieben, aufspringen, auf sich zustürzen und ihr eine Ohrfeige versetzen, die sie unsanft auf dem Boden landen lässt.
"Wag es ja nicht die Liebe, die ich für deinen Vater empfunden habe, einfach so kalt lächelnd abzutun, nur um deine Zwecke zu erreichen! Hier im Palast magst du ja sicher sein, aber draußen auf den Straßen da ist Moch und will unser beider Leben einklagen."
"Oh, Mutter hör auf!" Brianna haut beide Fäuste auf den Boden. "Falls Moch unser beider Leben gewollt hätte, wären die Fianna und auch Hauptmann MacLlyr nicht in der Lage gewesen, dies zu verhindern."
Brianna steht langsam wieder vom Boden auf, da sie Angst davor hat, sich gleich auf den Bauch zu legen und mit Armen und Beinen zu strampeln wie ein kleines Kind, das nicht bekommt, was es will.
"Vielleicht hat Moch uns verschont, damit ich ihm opfern kann. Mutter, ich bin bereit alles zu tun, um unsere Familie zu rächen, Murmel um Murmel, Stich um Stich, aber ich brauche dafür deine Hilfe."
Langsam geht ihre Mutter wieder zum Bett zurück und setzt sich hin.
"Ach, Liebes, wie oft habe ich von diesem Moment geträumt. Aber selbst wenn ich dir die Namen der verantwortlichen Familie, nach denen es dich so sehr verlangt, geben könnte, würde ich es nicht tun." Tränen treten in Ihre Augen "Weißt du, wie dieser Traum immer wieder ausgeht? Ich halte deinen Leichnam in meinen Armen. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen."
"Glaubst du denn nicht, daß ich eine außerordentlich gute Ausbildung bei den Fianna erhalten habe? Glaubst du nicht, daß ich sehr wohl in der Lage bin, mich selbst und auch dich zu beschützen? Glaubst du, daß ich all diese Mühen auf mich genommen habe, nur weil ich meinem Prinzen dienen will? Glaubst du das?"
Langsam nimmt Brianna einen Riss in der Schutzmauer, die ihre Mutter um sich herum errichtet hat, wahr. Blitzschnell rasen ihre Gedanken. Welchen Weg soll sie nun nehmen? Weiter auf Angriff oder Verteidigung, oder sogar einen Friedensvertrag aushandeln? Ihre Ausbildung hatte nicht nur den direkten Kampf beinhaltet, sondern auch Strategie und Taktik. Langsam zerrann ihr die Zeit wirklich wie Sand durch die Finger.
Brianna war nun klar, daß ein Kampf gegen ihre eigene Mutter immer mit einem totalen, bedingungslosen Rückzug enden mußte.
"Auch hier sind wir nicht wirklich sicher, nicht wahr?! Mutter, bitte laß mich noch einen Moment alleine, damit ich mich fertig anziehen kann und nicht zu spät komme zu meiner eigenen Aufnahmezeremonie."

 

(1) Cabwdl = Feiertag im Hügelreich, 38 Tage vor Samhain

 

Mit vielen Dank an Britta Durchleuchter und Carolin Gröhl, die mir jede auf ihre eigene Art und Weise geholfen haben, meine Ideen umzusetzen.

 

Murmel um Murmel
Brianna d'elazar
Isabelle Royen

 



Stand:30.09.2010