Fiacha-Story, Teil 6

 

Fiacha in Dhanndhcaer

 

Diese Geschichte spielt in der relativ kurzen Zeit, als Feach McLlyr e'dhelcú Herrscher des Hügelreiches war. Fiacha befindet sich immer noch in der Oberwelt und wartet darauf, daß sie abgeholt wird. Nur kurz von der "Thronübernahme" seines Neffen abgelenkt, macht sich Jethro endlich auf den Weg sie zurückzuholen.

Arkan e'dhelcú, der ehemalige Prinz der Tuach na Moch, fingerte nervös an seiner Fibel, welche seinen tiefschwarzen Umhang zusammenhielt, herum. Sein Halbbruder Jethro Cunack stand neben ihm und bereitete sich darauf vor in die Oberwelt zu gehen. Er wirkte äußerst ruhig und gelassen, während er mit leiser, tiefer Stimme die uralten Beschwörungsformeln zum Öffnen des Tores sprach. Der Ex-Hügelprinz gab es nur ungern zu, aber er machte sich ein wenig Sorgen um seinen Bruder, der nun in die Oberwelt ging, um Fiacha wieder ins Hügelreich zurückzuholen. Zu diesem Zweck mußte Jethro Kontakt zu thuathischen Druiden aufnehmen, - und der menschliche Magier war nicht gerne von den Druiden gesehen, da er ihrer Meinung nach unerlaubt Magie anwandte.
Doch, und das beruhigte Arkan wieder ein wenig, war der Garwydd1 und Erzdruide Tir Thuathas, Siber, ein Freund, und er, Arkan, hatte ihm einst seinen "Schwertarm" zu Füßen gelegt, so daß Jethro zumindestens in seiner Anwesenheit sicher vor den Anfeindungen der anderen Druiden sein würde.
Jethro hatte das Tor zu Dhanndhcaer geöffnet und wandte sich noch einmal kurz seinem Bruder zu, welcher ihm seinen Siegelring reichte.
"Hier," sprach er, "nimm den Ring und zeige ihn dem Garwydd, auf daß er weiß, daß ich dich geschickt habe. Aber vergiß nicht, ihn mir bei deiner Rückkehr zurückzugeben," versuchte er mit einem schiefen Lächeln zu scherzen.
Jethro lächelte. "Keine Sorge, ich bringe ihn zurück."
Sie winkten sich noch kurz zu, dann betrat der Magier das hell schimmernde Portal aus weißem Licht und verschwand in diesem.

***

Zu seinem großen Bedauern war Siber zu beschäftigt, um Zeit mit der jungen Hügelfrau verbringen zu können, so daß er den Druiden Becanor mit der Fürsorge beauftragte. Auf ihre Frage hin, wo denn die Druidin Chat Bidu, welche bisher für ihr Wohl zuständig gewesen war, sei, antwortete Siber, sie habe eine andere Aufgabe zu erledigen, und sei deshalb zur Zeit nicht abkömmlich. Fiacha gab ihr Bedauern zum Ausdruck, was der Garwydd mit einem amüsierten Lächeln quittierte.
Becanor kümmerte sich mehr schlecht als recht um die Tuach na Moch, welche ihn mit Fragen löchern wollte. Statt jedoch selbst ihre Fragen zu beantworten, überließ er es einem kleinen, alten Mann namens Chwalydd, welcher ihr von morgens bis abends für Fragen zur Verfügung stand und Geschichten erzählte. Fiacha bat um Feder, Tinte und Papier, denn sie wollte sich das, was Chwalydd ihr erzählte, aufschreiben. Becanor jedoch quittierte ihren Wunsch mit einem Stirnrunzeln und versprach, sich von Siber die Erlaubnis einzuholen, diese Dinge von einem Händler zu erstehen. In diesem Zusammenhang erfuhr Fiacha, daß in Tir Thuatha das Wissen immer mündlich weitergegeben und niemals aufgeschrieben wurde.
Sie schüttelte den Kopf und meinte zu Chwalydd, der ihr Vorhaben ebenfalls wortreich verurteilte: "Vielleicht ist Euer Gedächtnis besser trainiert als meines. Und vielleicht verachtet Ihr das Schreiben. Doch für mich ist es sehr wichtig, denn …. ich glaube nicht, daß sich irgendeiner im Hügelreich all die Geschichten merken könnte, die ihm oder ihr im Laufe des Lebens erzählt werden. Wir sind….hmm….etwas langlebiger als Ihr."
"Dann laßt mich doch Euer Gedächtnis trainieren," bot Chwalydd ihr an.
"Wozu diese Mühe?" protestierte sie, "ich kann schreiben, ich lese und schreibe gerne, und ich sammle auf diese Art mein Wissen."
Der alte Mann verzog das Gesicht.
Fiacha nutzte anschließend jede Gelegenheit, ihren Wunsch nach Feder und Papier zu äußern, denn entweder hatte Becanor sein Versprechen nicht gehalten, oder aber man wollte ihr den Wunsch abschlagen, denn es tat sich ein paar Tage lang nichts in dieser Richtung.
Nachdem Siber wohl die Unzufriedenheit seines Gastes zu Ohren gekommen war, bemühte er persönlich sich darum, sie davon abzubringen.
Doch Fiacha blieb stur. "Ich bin es gewohnt," meinte sie schließlich zu Siber, "mir persönliche Notizen zu machen, und ich liebe diese Gewohnheit. Wieso seid Ihr so vehement dagegen? Ich gebe doch kein geheimes Wissen weiter, - zudem in Eurem Land keiner unsere Schrift lesen kann und somit das Wissen auf diese Weise eh nicht weitergegeben werden kann. Wenn Ihr," und sie sah den Garwydd prüfend an, "darin eine Gefahr seht, so gebe ich Euch mein Wort, daß ich das Geschriebene sowieso mit nach Hause nehmen werde."
"Ihr laßt nicht locker, nicht wahr?" seufzte Siber und die Hügelfrau schüttelte den Kopf.
Am nächsten Morgen fand sie in ihrer Kammer Feder, Tinte und Papier vor.
Chwalydd hatte offensichtlich die Anweisung erhalten, Fiacha hinsichtlich ihrer Heimat auszufragen, doch sie hielt sich mit ihren Informationen sehr zurück, denn es wunderte sie schon, daß Arkan, der ja ein Freund Sibers war, den estron2 nicht mehr über sein Volk erzählt hat. Er hatte wohl seine Gründe gehabt.
Es war inzwischen Winter, das Wetter in der Oberwelt verschlechterte sich zusehends, und sie verspürte nur wenig Lust, im Schneesturm spazieren zu gehen. Während Fiacha also den Worten Chwalydds lauschte, konnte Becanor seinen üblichen Aufgaben als Druide nachgehen. Die Fragen seinerseits an die Tuach na Moch beantwortete sie jedoch trotzig ebenso spärlich, wie er ihre.
Fiacha vermied es auch nach Möglichkeit in der Oberwelt Zeitmagie zu wirken. Sie war sich nicht sicher, ob es unerlaubter Weise nicht gefährlich für sie werden konnte, und so ließ sie es besser bleiben.
Es dauerte auch nicht lange, und sie überkam Heimweh. Ihre Gedanken wanderten zu Arkan, und sie fragte sich, wie lange es noch dauern würde, bis er sie abholte.

***

Jethro wischte sich den Schnee aus seinem Bart, als er die Taverne in Dhanndhcaer betrat. Im Hügelreich konnte man leicht die Jahreszeiten der Oberwelt vergessen, und der Magier fluchte, daß er nicht entsprechend warm gekleidet war.
Er ließ sich an einem freien Tisch nieder und bestellte bei der Wirtin einen heißen Gewürzwein, welchen er mit kleinen Schlucken genoß. Sodann stopfte er sorgfältig seine lange Meerschaumpfeife, entzündete sie und lehnte sich zurück.
Der Magier grübelte darüber nach, wie er Zugang zum Palast erlangen, und vor allem, wie er Kontakt zum Garwydd aufnehmen konnte, ohne von den Druiden oder gar der Palastwache bemerkt zu werden. Dieser wurde wahrscheinlich gut von der Außenwelt abgeschirmt, und Jethro konnte sich nicht vorstellen, daß man ihm, einem scheinbar gewöhnlichen Manne, schnell eine Audienz gewährte. Und als Magier konnte er sich erst recht nicht vorstellen, denn Jethro wirkte unerlaubterweise Magie und wurde von den Druiden deshalb verfolgt.
Es war in Tir Thuatha üblich, daß magisch begabte Personen bereits im Kindesalter von den Druiden mitgenommen und ausgebildet wurden. Jethro jedoch hegte ihnen gegenüber eine tiefsitzende Ablehnung, da sie die Magische Akademie, in der er ausgebildet worden und welche sein zuhause gewesen war, geschlossen und etliche der dort Lebenden getötet hatten. Das war zwar schon sehr lange her, aber das konnte und wollte er ihnen niemals verzeihen.
Außerdem lehnte er die Verdummungstaktik der Druiden, mit der sie seiner Meinung nach dem einfachen Volk Wissen vorenthielten, aus tiefstem Herzen ab. Dabei hatte er keinerlei Probleme mit den einfachen Dorfdruiden (diese hielt er sogar für sinnvoll und wichtig), jedoch verabscheute er das politische Geplänkel des Druidenrates unter dem Deckmantel der Religiosität.
Jethro rang sich zu etwas durch, löschte seine Pfeife, warf ein paar Münzen auf den Tisch und verließ die Taverne. Mit hochgezogenen Schultern ging er durch die verschneiten Straßen Dhanndhcaers in Richtung Palast des Garwydd.

***

Einem Schatten gleich ging eine hochgewachsene Gestalt an den Mauern des Palastes von Dhanndhcaer entlang. Es war Nacht, und nur der weiße Schnee machte eine Orientierung in der Dunkelheit möglich. Der Himmel war wolkenverhangen, aber es hatte zu schneien aufgehört.
Die dunkle Gestalt blieb vor dem großen Tor des Palastes stehen und blickte an der Mauer, die etwa sieben Manneslängen maß, hoch.
'Ach, was soll's,' dachte Jethro und rief laut: "Hey da, Wachen!"
Er hörte das leise Quietschen eines Sichtfensters am Tor.
"Wer da? Und was wollt Ihr?" rief eine Stimme, offensichtlich gelangweilt.
"Mein Name ist Jethro Cunack, und ich wünsche eine Audienz beim Garwydd. Und zwar sofort!" Er legte soviel Autorität in seine tiefe Stimme, wie er nur konnte.
Hinter dem Tor ertönte ein Kichern. "Kommt morgen wieder, Mann," sagte die Stimme, und das Sichtfenster schloß sich wieder.
Jethro zog ärgerlich die Augenbrauen zusammen und hämmerte nochmals gegen das Tor.
Erneut öffnete sich das Sichtfenster, und Cunack konnte ein bärtiges Gesicht erkennen.
"Schert Euch weg," sagte die Wache, offensichtlich ebenso verärgert wie Jethro. "Wißt Ihr wie spät es ist?"
Der Magier schaute der Wache tief in die Augen.
"Ja, das weiß ich. Es ist jedoch von allergrößter Wichtigkeit, daß ich mit dem Garwydd jetzt und gleich spreche."
"Ihr seid ja verrückt!" brummte die Wache und wollte das Fenster wieder schließen.
Eine Zornesader begann auf der Schläfe des Mannes zu pulsieren und er vergaß ob seines Zorns, daß er eigentlich keine Magie hätte anwenden dürfen.
Auf seiner ausgestreckten Handfläche erschien mit einem Mal eine flackernde, grell und irgendwie boshaft grünlich leuchtende Flamme und er sprach gefährlich ruhig in Richtung der Klappe:
"Ihr werdet mich jetzt sofort zum Garwydd bringen, oder, bei Moch, ich werde dieses Tor niederbrennen! Habt Ihr mich verstanden?"
Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, ließ er die Flamme auf seiner Handfläche zu doppelter Größe aufflackern.
Im tanzenden Schein des magischen Lichtes konnte man erkennen, wie der Wachmann die Augen aufriß und stammelte: "Airdhust steh mir bei... Wa... wartet, Herr, ich wi... will sofort öffnen!"
Und tatsächlich: Das große Tor des Palastes von Dhanndhcaer wurde, nach einigem Gemurmel dahinter, kurze Zeit darauf aufgetan. Der Magier ließ das eigentlich völlig harmlose Illusionslicht verlöschen, zog seinen Mantel fester um sich und schritt stolz hindurch.
'Das war leichter, als ich dachte,' überlegte er mit einem siegessicheren Lächeln.
Aber da war er auch schon von einer Handvoll Soldaten umringt, welche ihn niederrangen und ihm blitzschnell Fesseln anlegten. Jethro beschlich der Gedanke, daß es wohl doch keine allzu schlaue Idee gewesen war, direkt vor dem Palast des Erzdruiden in dieser Art magisch zu protzen...

***

Als die Wachen einen halb erfrorenen Jethro in den Raum führten, stand Becanor von seinem Sessel auf.
Jethro musterte den Mann vor ihm aufmerksam. Sein Gegenüber war etwa ebenso groß wie er, hatte kurzes, blondes mit einigen grauen Strähnen durchzogenes Haar und stahlblaue Augen. Trotz seines offensichtlich hohen Alters, wirkte der Thuatha frisch und kräftig. Und obwohl er nicht die Gewandung eines Druiden trug, konnte Jethro ihn sofort anhand der magischen Aura, die den Mann umgab, als einen solchen erkennen.
Er mochte den Kerl auf Anhieb nicht!
Ungeduldig zerrte er an den Fesseln, welche die Palastwachen ihm angelegt hatten, und in Gedanken malte er sich bereits Fluchtpläne aus.
"Wer seid Ihr, Fremder?" fragte der Druide.
Jethro schnaubte unwillig.
"Wer will das wissen?" fragte er zurück.
"Die Fragen stelle ich!" erwiderte der ältere Mann, der es offensichtlich gewohnt war, Autorität auszuüben.
"Ich muß dringend zum Garwydd," antwortete Jethro.
Becanor hob amüsiert die Augenbrauen.
"So, so. Ihr müßt dringend zum Garwydd, sagt Ihr." Er lehnte sich an den Tisch hinter ihm und verschränkte die Arme vor seiner Brust. "Und zu welchem Zweck, Renegat?"
Jethro zuckte zusammen. Der Mann schien seine Reaktion gut beobachtet zu haben, denn er fügte gehässig hinzu: "Du bist magisch begabt, aber kein Druide. Folglich bist du ein Renegat. Also, - zu welchem Zweck willst du zum Garwydd? Doch sicherlich nicht, um eine Audienz zu bitten, oder?" Und er lächelte boshaft.
Jethro räusperte sich, bevor er antwortete: "Ich bin der Halbbruder und Abgesandte Arkan e'dhelcús, des ….ähem… ehemaligen Hügelprinzen, ein treuer Freund Siber Lobars, wie ihr wissen solltet, wenn ihr kein niederer Scherge seid. Der jetzige Hügelprinz, Feach McLlyr e'dhelcú, ist mein Halbneffe und…" Er seufzte. Wie sollte er diesem estron die verwirrende Politik des Hügelreiches in so kurzer Zeit erklären? Er schnaubte.
"Jedenfalls, Arkan e'dhelcú schickt mich. Wir suchen eine Tuach na Moch, die es auf eigenartige Weise nach Tir Thuatha verschlagen hat."
Jethro glaubte zwar nicht, daß sein Gegenüber das schlucken würde, denn wer würde schon annehmen, daß ein Mensch mit einem Tuach na Moch verwandt sein konnte? Und doch, so überlegte er, wenn er Fiacha erwähnte, könnte er vielleicht aus den Reaktionen des Druiden lesen, ob er den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.
Becanor musterte kühl den Mann, der sich als Verwandter des Hügelprinzen ausgab (ob nun Bruder oder Onkel war egal). Er war offensichtlich menschlich und kein Tuach na Moch, er konnte also auf keinen Fall der Bruder Arkans sein. Auf der anderen Seite jedoch hatte der Mann Kenntnisse über die Hügelfrau, welche an Samhain plötzlich im Steinkreis in der Nähe Dhanndhcaers aufgetaucht war. Bis auf die Druiden, welche dabei gewesen waren, als diese Fiacha wie aus dem Nichts erschienen war, wußte niemand etwas von ihrer Anwesenheit. Selbst hier im Palast gab es nur wenige speziell ausgewählte Personen, welche davon Kenntnis hatten, nämlich jene, die sich um das Wohl der Mocha kümmerten.
Siber hatte Becanor die Anweisung gegeben, daß, sollte Arkan hier im Palast auftauchen, er sofort zu ihm geführt wurde.
Aber statt Arkan tauchte dieser Fremde hier auf und behauptete, auf der Suche nach der Hügelfrau zu sein.
Er dachte kurz nach und beschloß, dem Garwydd diesen Mann vorzustellen und ihm die Entscheidung zu überlassen, ob er die Wahrheit sprach oder nicht.
Becanor befahl den Wachen, ihm mit Jethro zu folgen.

***

Jedesmal, wenn Becanor Sibers Arbeitszimmer betrat, bekam er nicht schlecht Lust, den Raum einmal gründlich aufzuräumen. Der Ordnungssinn des Garwydd ließ für seinen Geschmack zu wünschen übrig, und es überraschte ihn jedesmal, wenn Siber zielsicher das fand, was er brauchte.
"Verzeiht, Herr," sagte Becanor und verbeugte sich tief. "Ich bringe Euch einen Mann, der von sich behauptet, er wäre der Bruder des ehemaligen Hügelprinzen Arkan und der Onkel des jetzigen Hügelprinzen Feach McLlyr, und er sei auf der Suche nach der Hügelfrau."
Siber blickte auf und sah die Männer an, die sein Arbeitszimmer betreten hatten. Sein Blick fiel auf jeden einzelnen, und Jethro schien es für einen Moment, daß der Erbe des Hochkönigs von Tir Thuatha geistig abwesend war. Doch dann plötzlich waren seine Augen klar und wach, und er stand von seinem Sessel auf.
Jethro spürte die mächtige Aura des Erzdruiden und ihm stellten sich die Nackenhaare hoch.
Und noch etwas fiel Jethro auf: Die Aura Sibers hatte eine ähnliche Struktur wie die Fiachas! Es gab zwar gravierende Unterschiede, doch es gab da etwas, das Jethro bekannt vorkam, und das er bisher nur bei Fiacha gesehen hatte.
Er schluckte schwer bei dem Gedanken, daß der Garwydd seine Erinnerungen sehen konnte, ohne daß er eine Möglichkeit hatte, sich dagegen zu wehren.
Auf der anderen Seite jedoch….
Jethro beschwor in seinen Erinnerungen Bilder von Arkan herauf. Siber war ein Freund Arkans, und er würde erkennen, daß er, Jethro, die Wahrheit sprach.
Und tatsächlich, - Sibers Mundwinkel zuckten leicht.
"Becanor," sagte er, "ich denke, es besteht keinerlei Gefahr für uns. Dieser Mann spricht wahr. Er ist gekommen, um Fiacha zu finden. Seid bitte so gut und holt sie her."
Er wies die Wachen an, Jethros Fesseln zu lösen. Zwei Wachen blieben an der Türe stehen, während die anderen zwei mit Becanor zusammen den Raum verließen.
Siber wies Jethro einen Stuhl zu und machte es sich wieder in seinem eigenen Sessel bequem.
"So, so, Ihr seid also der Halbbruder Arkans," begann der Garwydd. "Und wie war Euer Name noch gleich?"
Jethro nickte. "Jethro Cunack!" Er zog den Sigelring Arkans aus seiner Umhangtasche hervor und reichte ihn Siber.
"Nun denn, Jethro Cunack," fuhr Siber fort, nachdem er den Ring betrachtet und Jethro wieder zurückgegeben hatte, "ich weiß zwar nicht, wie das möglich sein soll, daß Hügelvolkblut in Euren Adern fließen soll, aber ich habe gesehen, daß Arkan Euch als Bruder ansieht. Und als solcher seid Ihr in meinem Palast herzlich willkommen." Er schien zu grübeln. "Und wenn ich darüber nachdenke, kommt Ihr mir auch irgendwie bekannt vor."
Jethro mußte sich sehr zusammenreißen, um nicht mit offenem Mund den Garwydd anzustarren. Er hatte ja mit allem gerechnet, nur nicht damit, daß man ihn auch noch willkommen hieß.
"Und doch," sagte Siber, und in seiner Stimme lag nun ein warnender Unterton, "rate ich Euch an, den Palast nicht allzu häufig aufzusuchen, geschweige denn, unsere Hauptstadt zu besuchen. Ihr seid ein Renegat, und von daher müßte ich Euch eigentlich gefangen nehmen lassen. Doch als Freund Arkans gewähre ich Euch dieses eine Mal die Gastfreundschaft, denn es geht hier schließlich um eine Angehörige seines Volkes."
Jethro sah sein Gegenüber durchdringend an.
"Es geht um mehr als nur die Hügelfrau. Arkan ist besorgt über die Tatsache, daß Druiden es geschafft haben, eine Tuach na Moch in die Oberwelt zu holen."
'Die Wahrheit zu sagen hat schon einmal funktioniert,' dachte er bei sich.
Siber lächelte geheimnisvoll.
"Da Ihr die Wahrheit sprecht, Jethro Cunack, will auch ich ehrlich zu Euch sein. Wir Druiden haben auch keine Ahnung, wie das passiert ist. Wir haben an Samhain ein übliches Ritual am Steinkreis nähe Dhanndhcaer vollzogen, als Fiacha plötzlich auftauchte. Auch wir haben keine Erklärung dafür. Wir dachten, es sei aus dem Hügelreich Magie gewirkt worden."
Nun war Jethro wirklich überrascht. Die Druiden hatten möglicherweise - wie er es nannte - "mißglückte Versetzungsmagie" gewirkt und wußten nicht einmal davon? Das war nun wirklich schwer zu glauben. Aber, - warum sollte der Garwydd ihn anlügen?
Doch der Garwydd war gleichzeitig der Erzdruide, - und Druiden logen eigentlich alle!
"Das ist schwer zu glauben," gab Jethro zu.
Siber lachte.
"Fragt Fiacha, sie wird es Euch bestätigen können. Unseres Wissens nach haben wir keine solche Magie gewirkt. Das kann, soweit wir wissen, nur ein Tuach na Moch."
Das war eine Aussage, die Jethro mit gewisser Genugtuung zur Kenntnis nahm. Die Druiden glaubten also nicht daran, daß ein menschlicher Magier diesen Zauber wirken könnte.
'Nun,' dachte Jethro bei sich, 'auch ich hielt es nicht für möglich, wollte ich doch damals Tesheras' Zauber auf mich wirken, und bin so ins Hügelreich gelangt.3'
Laut sagte er: "Was immer es war, es öffnet offensichtlich ein Tor ins Hügelreich. Und es ist nicht von Fiacha, sondern von einem Druiden gewirkt worden. Das habe ich deutlich gespürt."
Siber neigte den Kopf ein wenig und strich sich mit einer Hand über seinen Spitzbart, während er mit der anderen auf die Sessellehne klopfte.
"Ihr seid Euch da ganz sicher?" hakte er nach.
Jethro nickte.
In diesem Moment wurde Fiacha ins Zimmer geführt.
Zunächst stutzte die junge Hügelfrau, als sie Jethro sah, doch dann stieß sie einen kurzen Jubelschrei aus.
"Jethro! Was machst du denn hier? Wo ist Arkan?" Sie blickte sich um. "Hast du ihn mitgebracht?"
Der Angesprochene stand von seinem Stuhl auf und erwiderte Fiachas stürmische Umarmung zögerlich.
"Nein, ich bin allein gekommen," antwortete er und setzte sich wieder.
Siber hatte die Begrüßung mit einem zufriedenen Lächeln beobachtet. Dieser Jethro Cunack hatte die Wahrheit gesagt, - nicht daß er daran gezweifelt hätte, nachdem er seine Erinnerungen gesehen hatte, - und doch, er war erleichtert, daß dieser "Renegat" nicht einmal den Versuch unternommen hatte, ihn zu täuschen.
Der "Bruder" Arkans genoß inzwischen die Sympathien des Garwydd, auch wenn er unerlaubt Magie wirken konnte.
Fiacha berichtete Jethro von ihrem plötzlichen Erscheinen in der Oberwelt, und die Aussage unterschied sich nicht von dem, was Siber erzählt hatte.
Es war also einer der Druiden gewesen, dessen war sich Jethro nun ganz sicher.
"Ich würde gerne Eure Druiden, die an diesem Ritual teilgenommen haben, prüfen," sagte Jethro schließlich zu Siber.
"Prüfen?" fragte dieser.
"Ja," nickte Jethro, "Ihr wißt, daß Magie eine Spur beim Kundigen hinterläßt. Da ich dieser Form von Magie schon einmal begegnet bin, könnte ich erkennen, ob und wer diese Magie schon einmal gewirkt hat, - insofern nicht allzu viel Zeit vergangen ist," fügte er hinzu.
Siber überlegte kurz, nickte aber schließlich.
"Gut, Cunack, Ihr dürft die Druiden überprüfen. Doch," und er schaute sein Gegenüber ernst an, "ich werde dabei sein und meinerseits Euch überwachen."
Jethro nickte grinsend.
"Selbstverständlich!"
"Und nun," Siber lehnte sich bequem in seinem Sessel zurück, "nun berichtet mir doch bitte davon, wie es Arkan ergangen ist. Er ist nicht mehr Prinz des Hügelreiches sagtet Ihr?"
Und interessiert, aber auch herzhaft lachend, lauschte der Garwydd der Erzählung Jethros über den "Regierungswechsel" im Reiche der Tuach na Moch.
Und Fiacha schüttelte erstaunt den Kopf.

***

Jethro öffnete ein Tor ins Hügelreich und schickte Fiacha hindurch.
"Ich werde später nachkommen," sagte er zu ihr. "Es wird ein Weilchen dauern, bis man hier alle beteiligten Druiden wieder zusammengerufen hat. Geh du schon mal vor und beruhige Arkan. Ach ja…." Er griff in seinen Umhang, "und gib ihm seinen Sigelring zurück." Mit einem breiten Grinsen fügte er hinzu: "Ohne den kann er ja schließlich keine Dokumente signieren."
Fiacha lächelte den großen Mann an, als sie den Ring entgegen nahm. Sie hielt ein Bündel Papier fest umklammert.
"Paß auf dich auf," sagte sie leise, "ich habe gehört, was man mit Magiern so macht, die keine Druiden sind, - und ich möchte nur ungern deine Statue in Mochs Reich sehen."
Jethro lachte laut und schüttelte den Kopf.
"Wie immer ich das jetzt zu verstehen habe. Aber keine Sorge, das wirst du nicht!" Er beugte sich zu der kleinen Gestalt hinunter und fügte flüsternd hinzu: "Mit so ein paar Druiden werde ich doch mit links fertig..." Ganz überzeugend klang es allerdings für die junge Mocha irgendwie nicht.
Als Fiacha durch das gleißende Licht des Tores verschwunden war, blieb Jethro noch ein kurzes Weilchen stehen und dachte: "Irgendwann, kleine Fiacha, werde ich dir erklären, daß nicht alles, was so erzählt wird, auch immer der Wahrheit entspricht. Und schon gar nicht, wenn du es mit Druiden zu tun hast."
Und er ging, um Siber Lobar aufzusuchen.

ENDE

1 Garwydd = Erbe des Hochkönigs
2 estron = Oberweltler
3 siehe hierzu "Aus den Erzählungen des Jethro Cunack - Die Reise nach Cor Dhai Teil 1" (1991)

 

Fiacha VI: Fiacha in Dhanndhcaer
Fiacha
Carolin Gröhl

 

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Stand:30.09.2010